avant / garde / under / net / conditions (vormals: perspektive | issue 43 | 2002 )

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[/] avantgarde under net conditions
[/] die straße als heiße ware – creep poetry



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>> die straße als heiße ware – creep poetry
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"es ist eine der ironien unseres zeitalters, dass sich heute,
da die straße die heißeste ware in der werbekultur geworden
ist, die straßenkultur selbst im belagerungszustand befindet.
[1]

die spannung zwischen den beiden sachverhalten. dass die straße zum einen zur ware geworden ist (der flaneur war nur ein vorgänger der heutigen konsumentin; andererseits wird die konsumentin heute wieder zur flaneurin, wenn man die kaufhausinseln unter dem aspekt des symbolischen kapitals begreift: ich sehe, also besitze ich) und zum anderen von den offiziellen institutionen streng überwacht wird (stichwort: surveillance[2]), findet sich auch in aktuellen poetologischen und/oder avantgardistischen ansätzen. innerhalb des avantgarde-spektrums – in diesem fall: der experimentellen literatur – werden jedoch zwei spannungszustände sichtbar: die abgrenzung nach außen - zum markt/zur ware und die abgrenzung nach innen – zur etablierten avantgarde, den arrivierten.

mit dem konzept der "creep poetry"[3] bewegt brian kim stefans sich in diesem doppelten spannungsfeld: sein ansatz weist die arrivierten strukturen experimenteller literatur zurück – vor allem die nachfolge der "language poetry" (postlangpo) und die schule der "ellipticists"[4] - und sucht anschluß an übergreifendere strukturen wie online-vernetzungen und crossover communities. "creep" fungiert dabei als eine"verschlagene", unterirdisch schleichende technik oder im sinne certeaus als taktik im "sauberen" raum[5] (auch wenn brian kim stefans dem begriff nur eine placebofunktion zugesteht).

"creep poetry" beruft sich in "klassischer" avantgarde-manier auf die "radarfunktion" von literatur bzw. geht noch eine spur weiter und interessiert sich für jene dinge, die sich unterhalb des radars befinden, rezipiert avantgardistische vorläufer wie breton als "moving target" und situationisten in ihrer anarchistischen tendenz, die eigenen produktionsbedingungen im feld der kulturellen produktion zu überschreiten und in frage zu stellen. die ablehnung etwa der "language poetry" resultiert für brian kim stefans vor allem durch deren zielsetzung, bücher zu machen und sich als autoren zu verstehen.

"creep poets" haben daher eine grosse affinität zu neuen techischen medien, verstehen sich als informationsjunkies, sind anti-kanonisch (wenngleich sie sich durchaus einer auflistung von potentiellen creep-autoren bedienen – ebenfalls eine klassische avantgarde-strategie[6]), gegen jede form des narzißmus in der literatur, lehnen das poetische "ich" ab und ziehen die enzyklopädie dem "what's going on in my head"-schreiben vor. ein konzept, das – insofern ist stefans kritiker ron silliman zuzustimmen – zwar manifestale anteile hat, aber gerade durch die bandbreite ein "passenger-manifesto"[7] bleiben will: ganz im sinne der "creep poetry" – sich exponiert exponieren und damit reibfläche/n erzeugen.

die kritik setzt jedoch vor allem hier an: das überschreiten oder verlassen der arrivierten experimentellen szene/n in größere oder andere zusammenhänge kann – so silliman – nur in den mainstream führen. der von stefans propagierte aufbruch ende nur in einer "seriellen formation", die gängige atomistische modelle des kapitalismus widerspiegelt.[8] die experimentelle nischen-community wird von silliman als "priviligierte kunstgemeinschaft" im klassischen avantgardefeld situiert: sie biete schutz nach aussen – zum markt und verständnis nach innen – zur produktion des symbolischen kapitals.[9] silliman beschreibt jedoch den zustand der literarischen enklave als sättigung. hannes böhringer bezeichnet diesen zustand als übermäßige abkapselung des teilsystems "avantgarde" vom umgebenden system, als den verlust der beweglichkeit bzw. im falle der arrivierten avantgarde als verlust des akkumulierten kapitals. für bourdieu befinden sich beide pole in einer "permanenten revolution": der spannungszustand kann nur durch "fortwährendes überschreiten" überwunden werden.[10]

die figur des "creep poeten" vereint beides: die flucht aus dem etablierten "etui"[11] – oder wie ulf poschardt das konzept der "kälte" interpretiert – die destruktive aktion als "coole strategie". oder wie brian kim stefans formuliert: "creep poetry" kriecht unter die haut der etablierten literatur wie ein comuptervirus. "coole" taktiken arbeiten mitunter an der grenze zum unsichtbaren.[12]

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[1] "reclaim the streets" - in: naomi klein: no logo, s 321 2000
[2] wie etwa die überwachung der strassen mittels kameras: "Digitale Videoüberwachung breitet sich aus"
[3] der artikel "when lilacs last in the door, notes on new poetry" wurde zuerst für die kolumne "metromania" (third factory) eingefordert, dann aber von den editoren abgelehnt. er sei zu widersprüchlich und "verschlagen". stefans, brian kim: "loose notes on the "Creeps"-essay"
[4] eine besonders ablehnende haltung wird gegenüber den "ellipticisten" eingenommen: wenig informationen sind online zu dieser gruppierung zu finden. einziger übereinstimmender bezugspunkt scheint die "elliptische" konstruktion von gedichten zu sein nach folgendem schema: "I am X, I am Y, I am Z". dabei ist die metaphorische spannung zwischen "ich" und "X" möglichst "obskur" anzusetzen. mittlerweile wird in schreibseminaren offenbar diese "elliptische" technik am häufigsten vermittelt und repraesentiert somit einen gewissen repraesentativen mainstream.
[5] certeau, de michael: kunst des handelns, merve 1988
[6] die auflistung potientieller creep-autoren wie rodrigo toscano wurde als quasi-kanon kritisiert; brian kim stefans jedoch macht auf die unterscheidung zwischen kanonisierung und beispielbedingter ausflistung aufmerksam.
[7] ron silliman greift "creep poetry" vor allem an zwei punkten an: am unzulässigen verlassen der arrivierten experimentellen enklave und an der "tendenzhaftigkeit" des anti-manifestes. ein "ever-growing passenger manifest", das sich nach jedem theoretischen wind richte und - stefans bezieht den begriff "creep" aus einem gleichnamigen song von radiohead, der u.a. auch den satz enthält: "I want to have control" - ganz im sinne von radiohead letztendlich nur kontrolle im markt erhalten wolle.
[8] die "creep poets" wollen im grunde nur nach oben (ophrahisierung der amerikanischen literatur)
[9] vgl. den ansatz von hannes böhringer zur avantgarde-"kapsel" als probelauf für neue techniken und praktiken (böhringer, hannes: attention im clair-obscur: die avantgarde. in: böhringer, hannes: begriffsfelder. von der philosophie zur kunst, merve 1985) oder auch den feldansatz von bourdieu (bourdieu, pierre: die regeln der kunst, suhrkamp 1999)
[10] der kritik von silliman wird im experimentellen umfeld nur eingeschränkt aufgenommen; es wird erkannt, dass silliman in ähnlich gelagerten fragestellungen zu "anxious" (ängstlich) reagiert.
[11] vgl. walter benjamins "etui-mensch" (zit. nach: poschardt, ulf: cool, s 13, rororo 2002): repraesentiert für den menschen in seiner entfremdung eine art warmen, sicheren kokon; vgl. dazu in analogie raymond williams "cocooning": in einem sicheren kokon leben (u.a. haus, auto, medien); nicht zu vergessen mcluhans these, dass medien eine ausdehnung unserer selbst darstellen.
[12] nach ulf poschardt, ebda.. : "das leben in der kälte ist die lebensform der zukunft" (s. 16)



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